Studieren mit ADHS: 6 Learnings aus meinem Studium

Mit ADHS studieren. Das klingt nach einer Herausforderung. Und für die meisten ist es das auch. Daher möchte ich heute einmal 6 Learnings aus meinem Studium mit ADHS teilen.

Vorab die Fakten, damit ihr meine Learnings auch im größeren Kontext sehen könnt. Ich habe zwei Geisteswissenschaften an der Universität Heidelberg studiert, von 2012 bis 2022. Meinen Bachelor habe ich mit einer 1,4 und meinen Master mit einer 1,0 mit Auszeichnung abgeschlossen. Mittlerweile arbeite ich an einer Universität, als wissenschaftliche Tutorin.

Erst 2023, also ein Jahr nach meinem Masterabschluss habe ich meine ADHS-Diagnose erhalten. Zuvor habe ich monatelang selbst recherchiert, denn vorher wusste ich quasi nichts darüber. Während meines Studiums war ADHS für mich also gar kein Thema. Zumindest nicht als Begriff, denn mein Alltag … was soll ich sagen, der war voll davon.

Schauen wir uns nun einmal meine Learnings an!

Learning Nr. 1: Regelstudienzeit ist nicht alles

Für meinen Bachelorabschluss habe ich etwa 13, für meinen Master etwa 7 Semester gebraucht. Insgesamt war ich also 10 Jahre lang eingeschrieben. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass mir diese Zeitspanne nicht Bauchweh bereitet hat. Die Studiendauer war durchaus Thema bei mir. Aber schneller ging es dadurch halt auch nicht.

Als ich dann raus war aus der Hochschule kam die Überraschung: Niemand interessierte sich für meine Studiendauer. Ich war bei Bewerbungsgesprächen, war zwischendruch als Kunsthistorikerin/Kuratorin selbstständig und arbeite mittlerweile wieder an der Hochschule. Nicht ein Mal wurde nach meiner langen Studienzeit gefragt.

Es gibt sicherlich Bereiche, in denen das wichtig ist, z. B. beim BAföG-Amt, für Promotionsstipendien oder hinsichtlich der Krankenversicherung. Für mein eigenes Leben nach der Uni hat mein doppelt so langes Studium bisher keinerlei negative Auswirkungen gehabt. Ganz im Gegenteil: Oft Thema sind meine zahlreichen praktischen Erfahrungen, die ich schon während des Studiums sammeln konnte!

Learning Nr. 2: One fits all? Nicht mit ADHS

Studieren mit ADHS bedeutet, ausprobieren. Trial und error, wie es in der Wissenschaft heißt. Was für neurotypische Studierende gilt, gilt für neurodivergente Menschen vielleicht nicht. Und vielleicht schon.

Individuelle Lösungen sind gefragt und wenn man – so wie ich im Studium – gar nicht um die ADHS weiß, dann wir es umso schwerer. Es lohnt sich also, wo immer es möglich ist, auf die eigenen Anforderungen zu achten. Unabhängig von einer ADHS oder anderen Neurodivergenzen. Beispielsweise bei der Erstellung des Stundenplans oder bei der Planung der Semesterferien. Denn auch Pausenzeiten sind wichtig!

Learning Nr. 3: Im Studium lernt man sich anders kennen

Ich habe insgesamt 20 Semester studiert. In dieser Zeit habe ich mehr gelernt, als ich je für möglich gehalten hätte – über meine Fächer und mich selbst. Ich dachte, ich gehe studieren und lerne viel über Germanistik und Musikwissenschaft, später Germanistik und Kunstgeschichte. Tatsächlich habe ich aber entlang des Weges extrem viel über mich selbst gelernt.

Studieren ist ein bisschen so, wie selbstständig, also Unternehmer:in, sein. Man arbeitet selbst und ständig und muss dabei all die anderen Lebensbereiche wuppen. BAföG, Arbeit, erste Wohnung, Krankenkasse, Partnerschaft und verschiedene Freundeskreise. All das erfordert klare Prioritäten und Organisation. Und wenn einem weder das eine noch das andere leicht fällt, dann müssen Strategien her. Und ganz viel Arbeit an einem selbst.

Learning Nr. 4: Selbstzweifel sind mit dabei, aber wir sind nicht allein

Was soll ich sagen. Die Sprüche, die wir ADHSler:innen aus unserer Kindheit kennen, haben wir oft verinnerlicht, bis es ans Studieren geht. „Stell‘ dich nicht so an“, „Reiß‘ dich mal zusammen“, „Es ist doch nicht so schwer“, „Konzentrier‘ dich doch einfach mal“… Ich erspare euch den Rest, ihr kennt’s vermutlich.

All das wandert in unser Handgepäck und wir schleppen diese Aussagen mit uns mit. Manche mehr, manche weniger. Auch wenn ich insgesamt einen eher netten Selbstdialog mit mir führe, gehörten Selbstzweifel dennoch zu meinem Studium dazu.

„Warum bekommen die anderen das alles hin?“, „Wieso sieht es bei denen so leicht aus?“… Spoiler: Tun sie nicht, ist es nicht. Wenn wir erst einmal in einen offenen Austausch mit lieben Menschen kommen, wird schnell deutlich: Die Struggles sind ähnlich, wir sind nicht allein!

Learning Nr. 5: Selbstentwicklung und -optimierung sind mit Vorsicht zu genießen

Durch den Druck von außen und innen, diesen unterschiedlichen Lebensbereichen gerecht zu werden, bin ich zu einem regelrechten „Selfhelp-Nerd“ geworden. Ich habe sämtliche Strategien ausprobiert und am Ende festgestellt: Es gibt nicht *die eine* Lerntechnik, *die eine* Produktivitätsstrategie oder *die eine* Lösung für meine Probleme. Auch wenn es einem oft so verkauft wird.

Alles ist miteinander verbunden. Meine Schlafgewohnheiten, mein Zeitmanagement, meine Essgewohnheiten oder meine Bewegung: Alles bedingt sich gegenseitig und es gibt keine einzelne Technik, die all diese und mehr Bereiche eines realen Alltags abdeckt.

Ich habe das Gefühl, das heute etwas differenzierter mit Selbstoptimierung umgegangen wird, aber vielleicht irre ich mich hier auch. Ich habe jedenfalls für diese Erkenntnis Zeit gebraucht. Heute weiß ich: Optimierungsdruck ist kein guter Druck, auch wenn er kurzfristig motivieren kann.

Learning Nr. 6: Die Studienzeit hat gut zu meiner ADHS gepasst

Wissend, dass mit dem Studium unfassbar viele Hürden auf mich zugekommen sind, möchte ich meine Studienzeit trotzdem nicht missen. Und nicht nur das: Mit dem Wissen um meine ADHS finde ich sogar, dass Studieren für mich persönlich die beste Entscheidung überhaupt war.

Studieren mit ADHS bedeutete für mich Stress und Anspannung, aber auch viel Freiheit und Entspannung, Deepdives, Rabbitholes und Hyperfokusse. Ich liebe dieses Gefühl, wenn die Synapsen feuern, wenn ich etwas Neues entdecke, etwas Neues verknüpfe. Und ich liebe die Begeisterung, die ich für meine Themen aufbringen konnte, weil ich mein Studium zu meinem Special Interest machen konnte.

Mit meiner aktuellen Arbeit als wissenschaftliche Tutorin an der Hochschule und meinen eigenen Interessen in der Forschung konnte ich mir diese Freiheit zu einem gewissen Grad erhalten. Die Hochschule ist und bleibt einer meiner liebsten Orte, auch mit ADHS-Diagnose.


Ich könnte diese Liste vermutlich unendlich weiterführen, aber belassen wir es für heute bei diesen 6 Learnings aus meinem Studium mit ADHS.

Wenn ihr mehr zu dem Thema „Neurodivergent studieren“ wissen wollt, dann hört doch einmal in meinen Podcast „Akademisch, aber anders“ rein und lasst gerne ein Kommentar da oder schreibt mir auf Instagram @FrauTutorin.

Ich freue mich darauf, von euch zu hören!

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