Neurodiversität ist ein großes, gesamtgesellschaftliches Thema. Immer mehr Erwachsene werden beispielsweise mit ADHS diagnostiziert. Sie können so auf Hilfen und Selbstakzeptanz zugreifen, die ihnen bisher verwehrt wurden oder schlichtweg nicht bekannt waren. Aber was bedeutet das für die Hochschulen? Hier sind meine 5 Prognosen zum neurodivergent Studieren. Aus Sicht einer Betroffenen, die in der Hochschullehre tätig ist.
Die meisten meiner Prognosen beziehen sich darauf, dass in der Gesellschaft mehr Aufklärung stattfindet. Ob durch Dokumentationen im Fernsehen oder Ratgeber im Buchladen: An dem Thema Neurodivergenz bzw. Neurodiversität kommt man heutzutage kaum vorbei.
Das lässt auf ein besseres Verständnis in der breiten Gesellschaft hoffen und somit auf Anpassungen, auf ein Entgegenkommen. Was also sind meine fünf +1 Prognosen zum Thema „Neurodiversität an Hochschulen“?
Prognose 1: Die Dunkelziffer an Hochschulen wird kleiner
Wie in der gesamten Gesellschaft gibt es auch an der Hochschule eine Dunkelziffer von neurodivergenten Studierenden. Diese Dunkelziffer wird sich im Laufe der nächsten Jahre, so meine erste Prognose, weiter an die realen Gegebenheiten anpassen. Denn entgegen der oberflächlichen Sicht auf das Thema, haben nicht „plötzlich alle ADHS oder Autismus“. Es haben einfach mehr Menschen durch Aufklärung über Neurodiversität Zugang zu sich selbst gefunden.
Kurzum: Es wird also mehr Menschen an Hochschulen geben, die von ihrer Neurodivergenz wissen.
Gleichzeitig denke ich, dass es künftig tatsächlich mehr neurodivergente Studierende an den Hochschulen geben wird als es aktuell der Fall ist. Dazu mehr im nächsten Punkt!
Prognose 2: Es werden mehr neurodivergente Studierende zugelassen
Wer durch eine nicht anerkannte Lese-Rechtschreibstörung (LRS) oder Dyskalkulie schlechte Noten in der Schule nach Hause bringt, sich trotz Lernen nicht verbessern kann und schließlich Schulfrust entwickelt, wird kaum studieren wollen – oder können.
Durch Aufklärung und mehr Verständnis in der Gesellschaft werden Lehrer:innen, Eltern und Schüler:innen für diese Themen sensibilisiert. Das ist ein langer Prozess und wir alle sind daran beteiligt. Aber mit mehr Aufklärung, an den Schulen und im sozialen Umfeld, werden neurodivergente Kinder besser aufgefangen.
Idealerweise bedeutet das, dass mehr Kinder mit ADHS, ASS, LRS usw. früh eine Förderung erhalten. Sei es durch Nachteilsausgleiche in der Schule oder aber auch durch schlichtweg mehr Verständnis und Raum, sich nach den eigenen Möglichkeiten zu entwickeln. Letzteres ist auch möglich, wenn keine Diagnose gewünscht ist… Denn so weit ist unsere Gesellschaft nun auch wieder nicht.
Der Zugang zur Hochschulbildung wird, so wünsche ich es mir zumindest, durch mehr Bewusstsein in der Gesellschaft vereinfacht bzw. erreichbarer gemacht. Und sei es auch nur, dass ein Kind ein Mal weniger zu hören bekommt: „Streng‘ dich doch einfach mal an!“
Prognose 3: Hochschulen werden mehr Angebote zum Thema „Neurodivergent studieren“ schaffen
Man kann aktuell schon einen Trend erkennen. In der „Langen Nacht des Schreibens“ (Kooperation der Universitäten in Darmstatt, Stuttgart und Dresden) beispielsweise werden Legasthenie und ADHS im universitären Kontext beleuchtet. Im November 2024 hat das Deutsche Studierendenwerk (DSW) eine Fachtagung zum Thema „Neurodivergente Studierende: Mit AD(H)S, Autismus, Legasthenie und Dyskalkulie an der Hochschule“ veranstaltet.
All das sind Zeichen dafür, dass die Hochschullandschaft auf dem richtigen Weg ist. Dafür dass neurodivergent zu studieren gesehen wird. Hier müssen wir aber auch selbst mit anpacken: Studierende können sich in Fachschaften, StuRa und AStA engagieren, Lehrende können ihre Veranstaltungen und Sprechstunden inklusiver gestalten.
Auch hier gilt: Je mehr Aufklärung es gibt, desto besser können betroffene Studierende lernen, mit sich selbst zu arbeiten und so besser, (mental) gesünder und zufriedener durch das Studium zu gehen.
Falls euch übrigens meine Learnings aus 20 Semestern Universität mit nicht diagnostizierter ADHS interessieren, dann schaut doch mal in diesem Beitrag vorbei!
Prognose 4: Es wird mehr Peergroups zu einzelnen NDs geben
Meine vierte Prognose ist, dass es in Zukunft Peergroups zu einzelnen Neurodivergenzen geben wird. Es wird nicht nur von der Hochschule aus Angebote geben, sondern von den Studierenden selbst.
Ob es Whatsapp-Gruppen sind, Discord-Server oder auch einfach Stammtische in der Mensa: Austausch ist wichtig und wird, so meine ich, immer mehr genutzt werden. Gespräche mit ‚echten Menschen‘, die die selben Hürden kennen, ähnliche Voraussetzungen mitbringen und andere Lösungen gefunden haben.
Viele neurodivergente Menschen, die spät ihre Diagnose erhalten, fühlten sich lange Zeit als Außenseiter. Wir brauchen also ganz besonders diese Art von Austausch können von dem Gefühl der Zugehörigkeit auf ganzer Linie profitieren.
Prognose 5: Nachteilsausgleiche werden mehr in den Vordergrund rücken
Zu meiner Studienzeit (2012 bis 2022) waren Nachteilsausgleiche komplett außerhalb meiner Lebensrealität. Ich denke, dass Nachteilsausgleiche mehr in den Vordergrund rücken werden und so ein individuelleres Studieren ermöglichen.
Vielleicht wird sich schließlich auch ein offenerer Austausch zwischen Lehrenden und Studierenden ergeben, sodass offizielle Nachteilsausgleiche nicht immer nötig sein werden. Durch individuelle Absprachen können bürokratische Hürden abgebaut werden. Dafür müssen aber beide Seiten etwas tun – Lehrende müssen das Vertrauen schaffen, Studierende müssen es in Anspruch nehmen.
Prognose 5+1: An der Hochschule wird es prozentual mehr Neurodivergente geben, als in der restlichen Bevölkerung
Okay, zu guter Letzt ein Hot Take: Ich denke, dass es an der Hochschule mehr neurodivergente Menschen gibt als in anderen Berufsständen. Don’t @ me, ich habe hierfür keinerlei stichhaltige Beweise oder Zahlen. Das erst einmal vorweg.
Es gibt schon lange Studien, die sich mit der Anzahl neurodivergenter Studierender auseinandergesetzt haben. Eine Zusammenfassung verschiedener Ergebnisse findet ihr z. B. bei Green/Rabiner 2012 (unter „Prevalence of ADHD in College Students“). Das nur als eine kurze Einordnung, denn mittlerweile gibt es sicherlich auch aktuellere Zahlen.
Ich mag voreingenommen sein, aber allein in meinem Umfeld gibt es so einige neurodivergente Absolvent:innen, mich eingeschlossen, die während ihres Studiums keine Ahnung von ADHS und Co. hatten. Das ist eigentlich auch nicht verwunderlich… Denn im Studium kann man sich so richtig in ein Thema einfuchsen, den Hyperfokus ausleben, von einem ins nächste Rabbithole flitzen und sich den Tagesablauf oftmals einigermaßen frei gestalten.
Ich kann mir also gut vorstellen, dass an der Hochschule prozentual mehr neurodivergente Personen zu finden sind, als in der restlichen Bevölkerung. Das ist nun keine Prognose, sondern ein Gedanke, der komplett auf meinen Erfarhrungen beruht. Vorstellen kann ich es mir sehr. Es wäre spannend, das einmal genau zu untersuchen!
Und das waren meine fünf Prognosen zum neurodivergent Studieren, bzw. was sich an Hochschulen in Zukunft ändern wird.
Ich bin gespannt, wo die Reise hingeht! Bis dahin findet ihr auf meiner Webseite allerlei Inhalte rund um das Thema. Mehr gibt es übrigens auch in meinem Podcast „Akademisch, aber anders“ auf Spotify.
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